Es war einmal eine Weide mit vielen Schafen. Viele Schafe hatten Lämmer und alle waren gedankenlos glücklich. Sie hatten keine Sorgen, weder finanzieller, familiärer, sozialer noch religiöser Art. Und die Weide war gut.
2. Überschrift
Das Einzige, was sie störte, war die Eisenbahn. Auf der Seite des Feldes, auf der sie am liebsten lagen, war der Damm, auf dem die Dieselzüge entlang fuhren. Sie hielten niemals an, denn es gab nichts, weswegen die Dieselzüge hätten anhalten sollen, und sie ließen niemals ihre Warnsirenen aufheulen, denn es gab nichts, weswegen die Warnsirenen hätten aufheulen sollen. Aber sie fuhren sehr schnell und ratternd vorbei.
3. Überschrift
Jedes Mal, wenn ein Zug den Damm entlang gerast kam, waren die Schafe gezwungen auf die gegenüberliegende Seite des Feldes zu rennen, weil sie Angst hatten, der Zug würde sie zerschmettern. Es dauerte dann immer sehr lange, bis sie wieder in Ruhe grasen konnte.
Eines der ältesten Schafe auf der Weide war bedeutend klüger als die anderen. Eines Tages nun, als die Schafe zum 12. Mal in wilder Flucht davongerannt waren, wandte es sich an die Herde.
4. Überschrift
„Meine Freunde!“, sagte es. „Ich habe uns und die Situation in der wir uns befinden beobachtet und bin zu folgendem Schuss gekommen. Wir sind — mit gewisser Berechtigung — immer sehr stolz darauf gewesen, so schnell vor den grässlichen Metallungeheuern davonrennen zu können, dass sie uns nie erwischt haben. Doch Freunde“, sagte das alte, weise Schaf, „ich möchte, dass ihr eine gänzlich neue Theorie überdenkt, die sich auf meine Beobachtungen stützt. Freunde“, sagte das alte, weise Schaf, „was wäre nun, wenn die grässlichen Metallungeheuer gar nicht vom Damm herunterkommen können?“
Daraufhin gab es ein totales Durcheinander. Alles schrie und blökte. Was die Theorie so gefährlich mache, sagten einige der schnellfüßigen Lämmer, war die Tatsache, dass die Herde bald degenerieren und überhaupt nicht mehr laufen könne. Doch die Herde war so fortschrittlich gesinnt, dass am Abend so gut wie feststand, dass man am anderen Morgen das Experiment wagen wollte.
5. Überschrift
Als nun das alte, weise Schaf diesen Stimmungsumschwung bemerkte, bekam es Gewissensbisse. Wenn es sich nun irrte, und sie alle von dem grässlichen Metallungeheuer getötet würden? Als alle anderen Schafe schliefen, schlicht es sich von der Herde fort, zum Damm hinauf. Wenn es irgendetwas Alarmierendes entdecken würde, wollte es das Experiment sofort abbrechen.
Das alte, weise Schaf musste einen steilen Abhang erklimmen, Stechginsterbüsche und Drahtsperren überwinden. Es war an derartige Anstrengungen nicht mehr gewöhnt. Als es die Höhe des Dammes erreichte, bekam es einen Herzanfall und starb.
6. Überschrift
Am anderen Morgen entdeckte man bald die über den Rand der Gleise herab baumelnden Hinterbeine des alten, weisen Schafes. Man hielt Rat und beschloss zu Ehre seines Andenkens das Experiment durchzuführen.
Als nun das erste grässliche Metallungeheuer aus der Ferne zu hören war, rührte sich kein Schaf von der Stelle. Das grässliche Metallungeheuer donnerte heran, stieß gegen die Leiche des alten, weisen Schafs, stürzte vom Damm herab und tötete alle Schafe.
„Und was geschah dann?“, fragte eine Zuhörerin.
„Nun … das Gras … auf der Weide … es wuchs wieder hoch.“
Aus: Tod im Staub, Brian W. Aldis