Die Geschichte von den Schafen

Es war ein­mal eine Wei­de mit vie­len Schafen. Viele Schafe hat­ten Läm­mer und alle waren gedanken­los glück­lich. Sie hat­ten keine Sor­gen, wed­er finanzieller, famil­iär­er, sozialer noch religiös­er Art. Und die Wei­de war gut.

Das Einzige, was sie störte, war die Eisen­bahn. Auf der Seite des Feldes, auf der sie am lieb­sten lagen, war der Damm, auf dem die Dieselzüge ent­lang fuhren. Sie hiel­ten niemals an, denn es gab nichts, weswe­gen die Dieselzüge hät­ten anhal­ten sollen, und sie ließen niemals ihre Warn­sire­nen aufheulen, denn es gab nichts, weswe­gen die Warn­sire­nen hät­ten aufheulen sollen. Aber sie fuhren sehr schnell und rat­ternd vorbei.

Jedes Mal, wenn ein Zug den Damm ent­lang gerast kam, waren die Schafe gezwun­gen auf die gegenüber­liegende Seite des Feldes zu ren­nen, weil sie Angst hat­ten, der Zug würde sie zer­schmettern. Es dauerte dann immer sehr lange, bis sie wieder in Ruhe grasen konnte.

Eines der ältesten Schafe auf der Wei­de war bedeu­tend klüger als die anderen. Eines Tages nun, als die Schafe zum 12. Mal in wilder Flucht davonger­an­nt waren, wandte es sich an die Herde.

„Meine Fre­unde!“, sagte es. „Ich habe uns und die Sit­u­a­tion in der wir uns befind­en beobachtet und bin zu fol­gen­dem Schuss gekom­men. Wir sind — mit gewiss­er Berech­ti­gung — immer sehr stolz darauf gewe­sen, so schnell vor den grässlichen Met­al­lunge­heuern davon­ren­nen zu kön­nen, dass sie uns nie erwis­cht haben. Doch Fre­unde“, sagte das alte, weise Schaf, „ich möchte, dass ihr eine gän­zlich neue The­o­rie über­denkt, die sich auf meine Beobach­tun­gen stützt. Fre­unde“, sagte das alte, weise Schaf, „was wäre nun, wenn die grässlichen Met­al­lunge­heuer gar nicht vom Damm herun­terkom­men können?“

Daraufhin gab es ein totales Durcheinan­der. Alles schrie und blök­te. Was die The­o­rie so gefährlich mache, sagten einige der schnellfüßi­gen Läm­mer, war die Tat­sache, dass die Herde bald degener­ieren und über­haupt nicht mehr laufen könne. Doch die Herde war so fortschrit­tlich gesin­nt, dass am Abend so gut wie fest­stand, dass man am anderen Mor­gen das Exper­i­ment wagen wollte.

Als nun das alte, weise Schaf diesen Stim­mung­sum­schwung bemerk­te, bekam es Gewis­sens­bisse. Wenn es sich nun irrte, und sie alle von dem grässlichen Met­al­lunge­heuer getötet wür­den? Als alle anderen Schafe schliefen, schlicht es sich von der Herde fort, zum Damm hin­auf. Wenn es irgen­det­was Alarmieren­des ent­deck­en würde, wollte es das Exper­i­ment sofort abbrechen.

Das alte, weise Schaf musste einen steilen Abhang erk­lim­men, Stech­gin­ster­büsche und Drahtsper­ren über­winden. Es war an der­ar­tige Anstren­gun­gen nicht mehr gewöh­nt. Als es die Höhe des Dammes erre­ichte, bekam es einen Herzan­fall und starb.

Am anderen Mor­gen ent­deck­te man bald die über den Rand der Gleise herab baumel­nden Hin­ter­beine des alten, weisen Schafes. Man hielt Rat und beschloss zu Ehre seines Andenkens das Exper­i­ment durchzuführen.

Als nun das erste grässliche Met­al­lunge­heuer aus der Ferne zu hören war, rührte sich kein Schaf von der Stelle. Das grässliche Met­al­lunge­heuer don­nerte her­an, stieß gegen die Leiche des alten, weisen Schafs, stürzte vom Damm herab und tötete alle Schafe.

„Und was geschah dann?“, fragte eine Zuhörerin.
„Nun … das Gras … auf der Wei­de … es wuchs wieder hoch.“
Aus: Tod im Staub, Bri­an W. Aldis